Offener Brief an Kanzlerin Angela Merkel

Oberbürgermeister Claus Ruhe Madsen

schreibt offenen Brief an Kanzlerin Merkel


Er fordert mehr Hilfe für Pandemie-Betroffene, eine Abkehr vom Fokus auf Inzidenzzahlen und weniger Bürokratie.
ROSTOCK | In die bundesweite Diskussion über die mögliche Rücknahme von Lockerungen wegen ansteigender Infektionszahlen in Deutschland mischt sich nach zunehmender medialer Präsenz auch Rostocks Oberbürgermeister Claus Ruhe Madsen (parteilos) ein. In einem offenen Brief an Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und Ministerpräsidentin Manuela Schwesig (SPD) vor dem Bund-Länder-Gipfel am Montag fordert er mehr Hilfe für von der Corona-Pandemie Betroffene und weniger Bürokratie.
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„Öffnungen und Schließungen sind ein schwerer Prozess, aber es darf nicht sein, dass einzelne Unternehmen oder Menschen die Folgen der Pandemie allein tragen müssen“, so das Stadtoberhaupt in einer Mitteilung am Sonntag. Seine Meinung nach müssten die Hilfen für Unternehmen und Arbeitnehmer vor dem Hintergrund fehlender Einnahmen und Kurzarbeiter „dringend sofort erhöht und langfristig ermöglicht werden“.


Madsen wirbt für Pilotregionen
Zusätzlich fordert er, dass die Inzidenzzahl nicht mehr als einziges Kriterium für Maßnahmen herhalten dürfe. Wie bereits auf Landesebene und in der Hansestadt im Hauptausschuss wirbt Madsen dafür, dass Pilot-Projekte in Kommunen zugelassen werden. „Wir alle können so besser verstehen, wo sich Menschen infizieren, wie sich die Infektionen ausbreiten und welche Alternativen wir im Handeln haben.“
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Dadurch würden sich Instrumente finden und Daten generieren lassen, die Risikobereiche identifizieren und die Belastung aller Branchen verhindern würde. Alle zur Verfügung stehenden Mittel sollen außerdem jetzt genutzt werden, um schnell zu Impfen, umfassende Tests anzubieten und schnell sowie unbürokratisch von der Krise wirtschaftlich Betroffenen zu helfen. Denn die zwei Wochen mit geöffnetem Einzelhandel hätten gezeigt, dass Hilfen langfristig wirken müssten.
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Die Antwort jetzt dürfe nicht ein weiterer Lockdown sein
Oberbürgermeister Madsen schlägt zudem vor, dass eine Kommission zur Entbürokratisierung mit Vertretern von Bund, Land und Kommunen ihre Arbeit vor dem Hintergrund der Pandemie-Erfahrungen aufnimmt. Sie soll das Rechts- und Verordnungssystem „entschlacken“, denn die Vielzahl der aktuellen Corona-Regelungen würden beweisen, dass oft der Überblick verloren gehe.
„Wir müssen unsere Bürokratie und Verwaltungen in einen Rahmen setzen, der für das 21. Jahrhundert steht und Innovationen beschleunigt, anstatt sie zu bremsen oder gar ganz auszuhebeln“, appellierte Madsen. Und weiter: „Gemeinsam wollen wir lernen und Erfahrungen sammeln. Die Antwort auf steigende Inzidenzen darf nicht ‚einfach‘ ein weiterer Lockdown sein.“



DER OBERBÜRGERMEISTER
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Datum
21. März 2021


Frau Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
Frau Ministerpräsidentin Manuela Schwesig
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Offener Brief für einen gemeinsamen Weg
Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, sehr geehrte Frau Ministerpräsidentin,

stellvertretend für viele klein- und mittelständische Unternehmen, für Arbeitnehmerinnen, Arbeitnehmer, Selbstständige und alle Bürgerinnen und Bürger wende ich mich im Vorfeld der nächsten Abstimmungsrunde zwischen dem Bund und den Ländern am morgigen Montag mit diesem offenen Brief an Sie.
Seit über einem Jahr ist unsere Welt quasi im Stillstand. Firmen, Unternehmen bis hin zu ganzen Branchen sind am Ende. Wir müssen jetzt die Weichen stellen, um künftige Herausforderungen zu bewältigen, und dies auch als Chance verstehen und nutzen. Jetzt gilt es, Erfahrungen zusammenzubringen und pragmatische Ansätze zu ermöglichen. Es muss jetzt um Lösungen gehen!
Wir sind verpflichtet, aus dieser Krise zu lernen und die Welt von morgen zu verbessern: Für eine Welt, in der lösungsorientierte Ansätze, die Bürgerinnen und Bürger sowie die Unternehmen im Fokus stehen und nicht unsere Verwaltungen und bürokratische Hürden; für eine Welt im Wandel, in der wir noch viel aufzuholen haben, aber in der wir auch den Menschen auf lange Sicht eine deutliche Entlastung bringen können.
Die Städte und Landkreise brauchen die maximale Unterstützung von Bund und Ländern, um die Bürokratie endlich wirklich abzubauen und nicht nur darüber zu reden. Wir sollten als Staat auf allen Ebenen moderner und digitaler werden und dies sollte für die Menschen vor Ort in ihren Ämtern und Rathäusern auch erlebbar sein.
Dieser Weg braucht Menschen, die ihn gestalten, braucht Qualifikationen für Neues und eine Infrastruktur, die neues Handeln auch in den Verwaltungen ermöglicht. Die Entwicklung und
Aufwertung der Arbeit der Gesundheitsämter ist hier ein wichtiges Beispiel, das auf weitere Bereiche angewendet werden muss.
Auf diesem Weg müssen wir die Bürgerinnen und Bürger stärker einbinden und Angebote machen, die auf Eigenbeteiligung und Selbstverantwortung setzen. Denn die Lasten eines erneuten Lockdowns würden letztlich am Stärksten von denen getragen, die vielfach aktuell gar keine Chance haben, ihrem Lebenserwerb nachzugehen.
Öffnungen und Schließungen sind ein schwerer Prozess, aber es darf nicht sein, dass einzelne Unternehmen oder Menschen die Folgen der Pandemie allein tragen müssen. Hilfen für Unternehmerinnen und Unternehmer sowie für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die schon seit Monaten ohne Einnahmen oder mit Kurzarbeitergeld auskommen müssen, müssen dringend sofort erhöht und langfristig ermöglicht werden. Andernfalls kann ein Lockdown nicht gelingen. Die Menschen werden nach Alternativen suchen und ihre Mobilität erhöhen.
Im Spiel „Mensch ärgere Dich nicht“ gehört es beispielweise dazu, die Spielfiguren zurück „nach Hause“ zu schicken. Auch wenn es ärgerlich ist, wenn man ausgekegelt wird und wieder im Haus mit allen vier Figuren steht, braucht man eine Perspektive, um wieder voran zu kommen. Wir dürfen den Menschen nicht die Möglichkeit nehmen, wieder auf das Spielfeld zu kommen. Man darf den Spielerinnen und Spielern nicht die Würfel wegnehmen.
Denn nach über einem Jahr harter Maßnahmen verbrauchen sich Appelle und die Bereitschaft sinkt, alle Maßnahmen auch stringent zu befolgen. Ein echter Lockdown gelingt nur mit der Unterstützung jedes einzelnen!
In den vergangenen Wochen und Monaten haben wir in der Hanse- und Universitätsstadt mit dem Rostocker Weg verschiedene Erfahrungen gemacht, die wir einbringen wollen. Lassen Sie uns gemeinsam für die Welt von morgen pragmatische Lösungen entwickeln, unbürokratische Hilfen ermöglichen und digitale Potentiale nutzen.
I. Pilot-Projekte in Städten, Landkreisen und Kommunen
Um gesellschaftlich und wirtschaftlich nicht auf der Strecke zu bleiben, dürfen wir nicht länger das Infektionsgehehen singulär über die Infektionszahlen betrachten. So wie sich das Virus weiterentwickelt, müssen sich auch unsere Maßnahmen entwickeln, die die Städte und Landkreise in Deutschland umsetzen. Die Inzidenz darf künftig nicht als einziges Kriterium für Maßnahmen herhalten!
Durch Pilot-Projekte können Städte, Landkreise und Kommunen einen Beitrag leisten. Sie entwickeln neue Strategien und generieren Wissen. Wir alle können so besser verstehen, wo sich Menschen infizieren, wie sich die Infektionen ausbreiten und welche Alternativen wir im Handeln haben. Wir können so Instrumente finden, um Kontakte und Leben zu ermöglichen, und gleichzeitig Daten sammeln (z.B. über digitale Kontaktenachverfolgung), die uns ermöglichen, künftig nur noch konkret nachgewiesene Risikobereiche zu verändern, statt alle Branchen zu belasten.
II. Pragmatische (digitale) Lösungen und unbürokratische langfristige Hilfen
Die kommunale Ebene ist auch in der Pandemie die Praxisebene für die beschlossenen Maßnahmen und Schritte. Vor Ort muss die Pandemiebewältigung wirken. Die Menschen erwarten zu Recht, dass die Vereinbarungen, Ankündigungen und Versprechen von Bund und Land auch vor Ort umgesetzt werden. Das betrifft die Bereitstellung von Impfstoffen, von Schnell- und Selbsttests und die Wirksamkeit der Hilfsprogramme.
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Wir benötigen in der Abwägung von Maßnahmen eine große Solidarität. Es macht einen deutlichen Unterschied, ob man ein sicheres Einkommen hat und es nicht in einem Restaurant oder Hotel ausgeben kann, oder ob man ein Hotel oder eine Gaststätte betreibt und genau auf diese Ausgabe als Einnahme angewiesen ist.
In dieser Ein- und Ausgabensituation sind es leider sehr stark diejenigen ohne aktuelle Einnahmen, die die Rechnung für den nächsten kompletten Lockdown bezahlen würden.
Die Erfahrungen nach zwei Wochen geöffnetem Einzelhandel in Rostock zeigen uns auch deutlich: Viele Hilfen müssen längerfristig wirken, denn die Phase des Stillstands ist nicht mit der Wiedereröffnung der Geschäfte vorbei. Sie wirkt deutlich darüber hinaus.
Unser Leben ist gerade wie eine prunkvolle Vase, die von einem Tisch herunterfällt. Wir müssen diese Vase jetzt und sofort mit aller Kraft auffangen, bevor uns nur noch übrigbleibt, die Scherben zusammenzufegen!
Deshalb müssen wir jetzt, dringender als je zuvor, alle zur Verfügung stehenden Möglichkeiten nutzen, um schnell impfen zu können, um Tests in aller Breite anzubieten und um denen schnell und unbürokratisch zu helfen, die dringend Hilfe benötigen.
III. Unsere neue Welt mutig gestalten
Die aktuellen Corona-Verordnungen der Länder, Ministerien, Landkreise und Kommunen zeigen im Kleinen, wie es bei Verfahren in vielen Bereichen im Großen zugeht: Man verliert den Überblick.
Als ein zentraler erster Schritt sollte eine Kommission aus Vertreterinnen und Vertretern von Bund, Ländern und Kommunen die Pandemie-Erfahrungen aufnehmen und unser Rechts- und Verordnungssystem, unsere Bürokratie und Verwaltungen mutig entschlacken und in einen Rahmen setzen, der für das 21. Jahrhundert steht und Innovationen beschleunigt, anstatt sie zu bremsen oder gar ganz auszuhebeln.
Als Oberbürgermeister der Hanse- und Universitätsstadt Rostock erhoffe ich mir die Möglichkeit, den Rostockerinnen und Rostockern einen Weg mit Corona aufzeigen zu können. Der Rostocker Weg kann dabei eine Möglichkeit sein. In anderen Regionen kann ein anderer Weg der richtige Ansatz sein. Vor allem aber darf die Antwort auf steigende Inzidenzen nicht „einfach“ ein weiterer Lockdown sein.
Gemeinsam wollen wir lernen und Erfahrungen sammeln. Bitte unterstützen Sie uns dabei. Mit besten Grüßen
Claus Ruhe Madsen

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