Jörg Heinkes ist Unternehmer und Vize-Präsident der Bergischen IHK. Er betreibt seit 22 Jahren die „VillaMedia Eventlocation“ in Wuppertal.


Für Malle-Urlaub werden Corona-Regeln ignoriert – doch die ganze Branche blutet gerade.

Die neue Normalität treibt unsere Gesellschaft in widersprüchliche Lebenswirklichkeiten. Auf der einen Seite ist das Gedränge der Menschen wieder auf Vorkrisen-Niveau angekommen. Auf der anderen Seite können Kinder auf die Rückkehr in Kitas nur hoffen – und eine ganze Branche erlebt den Super-Gau. Event-Unternehmer Jörg Heynkes über das Ischgl-Trauma der deutschen Politik. „Buenos Dias, Mallorca!“ tönte es vor ein paar Tagen aus den ersten Fliegern, die „nach Corona“ auf der Lieblingsinsel der Deutschen landeten. Und mallorquinisches Hotelpersonal applaudierte zum Einmarsch der Urlauber wie in den 60ern, als die Insel den Massentourismus für sich entdeckte. Schön für die Tourismuswirtschaft und den Pool-Cocktail von Ingeborg und Hans. Doch beim Blick auf die live gestreamten Videos aus den völlig überfüllten Flugzeugen wird mir anders. Hamsterklasse wie eh und je. 1 Meter 50 Sitzabstand? Nie und nimmer. Für das Recht der Deutschen auf Malle-Urlaub wird jede Corona-Regel zur Folklore. Und der Staat schaut zu – oder weg. Eine Woche vorher auf dem Berliner Alexanderplatz: 15.000 Menschen demonstrieren anlässlich des gewaltsamen Todes von George Floyd gegen Rassismus. In Köln, München, Frankfurt, Hannover und Stuttgart sind es nur unbedeutend weniger. Das Anliegen: völlig legitim, sogar notwendig. Die Menschenmenge: dicht an dicht. Auch hier wird jede Corona-Regel zur Folklore. Die neue Normalität in Zeiten der Pandemie treibt unsere Gesellschaft in widersprüchliche Lebenswirklichkeiten. Auf der einen Seite erleben wir, dass in den Zentren unserer Städte, an den Ausflugsorten, in der Straßenbahn und im Sportverein das Gedränge der Menschen schon wieder auf Vorkrisen-Niveau angekommen ist. Auf der anderen Seite dürfen Kinder erst wieder nach dem Sommer auf „Regelbetrieb“ ihrer Schulen und Kitas hoffen – und eine ganze Branche erlebt aktuell den realwirtschaftlichen Super-Gau! Alle Unternehmen, die im weitesten Sinne mit Veranstaltungen ihr Geld verdienen und keinen guten Zweck wie Anti-Rassismus oder Mallorca-Urlaub vorweisen können, werden weiterhin ausgeblutet. Mindestens bis Ende Oktober. Und Bayerns Ministerpräsident Markus Söder stellte beim Corona-Gipfel im Kanzleramt bereits den Karnevalsauftakt am 11.11. infrage. Nach dem Motto: Wenn schon kein Oktoberfest in München, dann auch kein Karneval in Köln! Ob es sich nun um Hallenbetreiber, Technikausstatter, Dekorateure, Caterer, Securitydienstleister, Eventagenturen, Messebauer, Zelt- und Bühnenbauer, Schausteller oder Ticketverkäufer handelt: ihr aller Business ist tot! 


Was die Politik offenbar nicht sehen mag: Wie in der Automobilwirtschaft sind von einem weiteren Verbot von Großveranstaltungen Zulieferer und Partner betroffen. Von jedem größeren Event profitieren unzählige weitere Akteure, die Wertschöpfungsketten sind gigantisch und vielfältig: Hotelbetreiber, Künstler, Redner, Shuttleservice-Bus und Taxibetreiber, Dolmetscher, Floristen, Eis-, Bier- und Würstchenverkäufer genauso wie Marketingagenturen, die normalerweise die Werbung für solche Anlässe organisieren. All diesen kreativen, handwerklichen, gastronomischen und dienstleistungsorientierten Unternehmen entzieht die Politik die Lebensgrundlage. 


Gesamte Branche mit 15 Millionen Beschäftigten vor dem Kollaps 


Die aktuelle Strategie der deutschen Politik hätte unweigerlich zur Folge, dass die deutsche Veranstaltungsbranche mit ihren mehr als 1,5 Millionen Beschäftigten und 130 Milliarden Euro Umsatz in absehbarer Zeit kollabiert. Denn kein Privatunternehmen aus diesem Gewerbe ist in der Lage, seinen Betrieb möglicherweise bis 2021 in einen Tiefschlaf zu versetzen und das Ende der Pandemie abzuwarten. 


Die volkswirtschaftlichen Schäden eines solchen Niedergangs wären gigantisch, die persönlichen unerträglich. Meine „VillaMedia Eventlocation“ ist im 22. Jahr nach 8000 Veranstaltungen und mehr als fünf Millionen Euro privatem Invest massiv in ihrer Existenz bedroht. Mir und meinem Team fehlt jede Überlebensperspektive, denn mit kleinen Veranstaltungen kann ein großes Haus wie unseres nicht überleben. Viele der betroffenen Soloselbständigen – wie zum Beispiel Techniker, Kameraleute und Künstler – stehen unmittelbar vor der Insolvenz. Technikverleiher, die Millionenwerte im Lager liegen haben, müssen jeden Monat genauso ihre Mieten und Kredite bedienen wie Busunternehmer, bei denen 80 Prozent der Busse auf dem Hof stehen. 


Kein Spaß – außer auf Mallorca: Das Ischgl-Trauma der deutschen Politik 




Die deutsche Politik agiert aktuell nach dem Motto: Bis wir einen Impfstoff haben und die Bevölkerung in wesentlichen Teilen geimpft ist, wird es keine größeren Veranstaltungen mehr geben. Schon gar nicht, wenn sie Spaß machen. Man könnte es auch das Ischgl-Trauma der deutschen Politik nennen. Aber: Wenn deutsche Urlauber auf Mallorca Seit’ an Seit‘ ihre Sangria trinken? Sollen sich doch die Spanier drum kümmern. 


Für mich als Unternehmer bedeutet das realistisch: Solange es keinen Impfstoff gibt – und wer weiß schon, ob es jemals einen geben wird – müssen wir lernen mit dem Virus zu leben. Erst wenn wir eine Herdenimmunität erreicht haben, wird es wieder ein „normales“ Leben geben. Dass dieses kontrollierte Leben mit dem Virus funktionieren kann, haben die Menschen in den vergangenen Wochen bewiesen: Deshalb sollte unsere Regierung fair sein und die Veranstaltungswirtschaft zumindest in Teilen retten.


Unternehmer hoffen vergebens auf Änderungen und verbrennen ihr Geld 


Wir brauchen dabei eine brutal ehrliche Vorgehensweise: Zur Ehrlichkeit gehört, dass es auf sehr lange Zeit keine Massenveranstaltungen in geschlossenen Räumen geben kann. Denn dort, wo tausende Menschen auf engem Raum zusammen kommen, um sich in ausgelassener Weise tanzend, singend und unter Alkoholeinfluss oder anderen Drogen zu bewegen, ist der ideale Nährboden für das Virus, um sich blitzschnell zu verbreiten. Dieses Business ist auf absehbare Zeit erledigt. Das gilt es auch den beteiligten Unternehmen so schnell wie möglich klar zu machen, denn es macht keinen Sinn, wenn diese weiter jeden Monat ihre finanziellen Reserven verbrennen, weil sie glauben, es ginge bald – nach Ende Oktober – tatsächlich weiter. Ausgerechnet im Winter, wenn Veranstaltungen draußen nicht mehr möglich sind? Bei Events im Freien sieht es schon ganz anders aus: Hier lässt sich sicherlich mit entsprechenden Verhaltensregeln und Hygienemaßnahmen manches von dem gestalten, was den Menschen in der Vergangenheit Freude bereitet hat. 


Wir müssen uns gemeinsam herantasten, was möglich ist


Wenn Menschen eng gedrängt in der U-Bahn verweilen dürfen, dann sollte dieses auch in einem Opernhaus möglich sein, wo die Gäste sich in der Regel nicht schreiend in den Armen liegen oder wie bei einem Pogokonzert hin- und herschubsen. Einige Länder planen das tatsächlich. Doch hier erleben wir wieder den Irrsinn des Föderalismus: NRW will lockern, Baden-Württemberg blockiert und Bayern sucht einen Kompromiss. 


Mir ist klar, dass es Differenzierung braucht. Event ist nicht gleich Event. Wir müssen uns gemeinsam herantasten, was möglich ist. Doch wie will die Politik tausenden Schaustellern erklären, dass sie bis in den Winter hinein auf jeden Umsatz bei Volksfesten verzichten müssen, während Freizeitparks wieder geöffnet haben? 


Zuerst in den Lockdown, zuallerletzt wieder heraus: Das ist das bittere Los für 1,5 Millionen Menschen in diesem Land, die häufig auch noch zu den Geringverdienern zählen. Die Politik sollte diesen bitteren Nachteil der Event-Wirtschaft zumindest finanziell ausgleichen, wenn es in anderen gesellschaftlichen Bereichen wieder erlaubt ist, Corona-Regeln für den guten Zweck zu brechen.

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